Dieser Blogartikel entstand aus meiner tiefen Erschütterung um die Gewalt rund um den G20 Gipfel.
Tayo starrt auf seine Füße und malt mit seinem großen Zeh Kreise in den rotbraunen, staubigen Savannenboden. Noch nie war ihm aufgefallen dass die hellgrauen kleinen Steine, die hier und da aus dem Boden ragen, so angenehm kühl sind. Sein Herz pocht schwer und der Kloß, der in seinem Hals sitzt, ist so groß geworden, dass er ihn nicht mehr herunterschlucken kann. In seinen Beinen steckt eine seltsame Mischung aus Taubheit und Unruhe.
Ein heißer Windzug fährt über seinen Rücken und trägt den Duft von frischgekochter Yam-Suppe an seine Nase. Doch die wird erstmal warten müssen. Als der Windzug sich legt, erfasst eine drückende Stille die Szenerie. Er weiß, dass sie alle um ihn stehen, in einem Kreis, er kann ihre Anwesenheit, ihre konzentrierte Präsenz spüren. Was war nur in ihn gefahren…
Mit einem leisen Zittern erhebt sich der Klang einer Frauenstimme über die Anwesenden. Die Melodie ist ihm so vertraut wie die Stimme und noch nie hat ihm dieses Lied einen so tiefen Stich versetzt. Als die kurze Melodie (es erscheint ihm wie eine Ewigkeit) verklingt, fühlt es sich an, als würde der Kloß in seinem Hals bersten. Und plötzlich erheben sich die dutzenden Stimmen um ihn herum und singen diese Melodie, singen ihm die Bedeutung seines Namens vor. „Tayo, der Glückliche, Tayo, der fürs Glück Geborene“. Eine heiße Träne rinnt über seine Wange und hinterlässt eine Spur auf seiner schwarzen Haut, die in der Sonne glänzt.
„Tayo. Weißt du noch vor sechs Jahren, als du vierzehn Jahre alt warst und wir zusammen am großen Fluss waren?“ Die Stimme seiner Mutter ist sanft, aber Tayo hört auch, dass sie geweint haben muss. „Du hast diesen Vogel gefunden, der sich hilflos in einem Netz aus Plastik verfangen hatte. Und mit ganz viel Geduld, ganz vorsichtig, auch als er immer wieder nach dir pickte, hast du ihn befreit. Da habe ich dein tiefes Mitgefühl bewundert und das hat mich sehr berührt.“ Ein kurzes intensives Schweigen tritt ein. Tayo wagt nicht, aufzusehen. Mehr Tränen rinnen still seine Wangen hinunter.
Dann ergreift eine männliche Stimme das Wort, die Tayo als die des Yam-Suppen Kochs erkennt. „Tayo. Immer wenn ich dich sehe, hast du dieses Strahlen auf deinem Gesicht. Und ich beobachte immer wieder, wie ansteckend diese Freude auf andere wirkt. Auch auf mich. Ich danke dir dafür.“ Wieder dieses intensive Schweigen. Tayos Kloß kann sich nicht entscheiden, ob er bersten oder oder ihn ersticken möchte.
„Tayo.“ Die Stimme von Malou erklingt. Das Mädchen, das wegen ihm beinah ums Leben gekommen wäre und den Morgen in einer Trage verbracht hat. Eine Flut an Gefühlen überfluten Tayo gleichzeitig. Sie lebt! Dieser Schwall, lässt ihn kurz aufschauen in die Richtung ihrer Stimme. Ihr Gesicht ist geschwollen und entstellt, mehrere Verbände sind um Arme und Beine gewickelt. Sie ruht noch immer, entkräftet und erschöpft, aber aufgerichtet, in ihrer Trage. Die Mitglieder des ganzen Dorfes stehen um ihn herum versammelt und schauen ihn an. Streng und auch liebevoll. Rasch, nun klar mit dem Gefühl zu ersticken, senkt Tayo wieder seinen Blick. „Tayo, ich finde du bist der beste Fährtensucher.“
Dies ist die Geschichte des 20-Jährigen Tayo, ein junges Mitglied eines Stammes in Afrika. Tayo ist ein fiktiver Charakter, den Stamm gibt es tatsächlich. Wann immer jemand aus diesem Stamm etwas tut, was gegen die Regeln des Stammes verstößt oder andere Menschen in Gefahr gebracht hat, nehmen sie diesen Menschen in ihre Mitte, singen ihm das Lied seines Namens vor und jeder Anwesende teilt etwas, das er an diesem Menschen schätzt.
Gewalt… Wie wollen wir leben?
In welcher Form des Miteinanders wollen wir leben? Die Geschehnisse um den G20 Gipfel haben mich sehr erschüttert. Auch ich sehe eine Entscheidung für Freihandelsabkommen mit unabghängigen Schiedsgerichten kritisch. Auch ich wünsche mir ein viel klareres Umsetzen von Klimaschutzzielen für den Erhalt unseres einzigen zu Hauses. Auch ich wäre auf einer Demo dort gewesen, wenn mein Onkel und meine Tante an diesem Wochenende
nicht geheiratet hätten.
Das (Un)mögliche tun
Tobi traf ich ganz überraschend auf einer Begegnungs-Konferenz der „Initiative Psychologie im Umweltschutz“. Zuvor hatten wir bereits über Mail Kontakt gehabt – wie das Leben so spielt durch happyroots. Als ich in einem Artikel über die Leichtigkeit des Glücks auf seine geniale „geldfreier leben“-Kampagne verlinkte, schrieb er mich an und es entstand ein schöner Kontakt. Ihm nun zufällig zu begegnen, mit seiner ganzen Herzlichkeit, war wie das Treffen mit einem alten Bekannten.
Wann immer ich mich mit ihm austausche, erweitert sich mein Horizont über das, was möglich ist. Er lebt zur Zeit mit ca. 10 anderen Menschen in einer Haus-WG. Ihr Essen bekommen sie komplett geschenkt. Und zwar von Biofirmen, die ihre abgelaufenen Lebensmittel ansonsten wegwerfen würden. DAS IST MÖGLICH! Letztes Jahr war ich dann auf einer Konferenz, die er maßgeblich mitorganisierte, als Workshopleiterin eingeladen: Die UTOPIKON – Eine Konferenz für 100 Menschen, in genialen Räumlichkeiten, mit köstlichem Essen und hochkarätigen Keynote Speakern, die komplett geldfrei gestaltet wurde. DAS IST MÖGLICH!
Tobis unglaubliche, liebevolle Energie fließt in die Verwirklichung eines alternativen Gesellschaftskonzeptes. Und er lebt seine Utopie schon jetzt mit ganzem Herzen. DAS IST MÖGLICH! Und damit, neben der immensen Inspiration, die dieser wundervolle Mensch mir schenkt, stärkt jede Begegnungen mit ihm auch meine Zuversicht. Wenn es Menschen dort draußen gibt, die sich mit ihrem ganzen Wesen für das Wohl der Welt einsetzen, dann ist Tobi einer von ihnen.
Auch er hat in Hamburg demonstriert. Mit seiner ganzen liebevollen Präsenz, seiner Grundhaltung von Gewaltfreiheit, seiner Vision von einer gemeinschaftlichen, leidfrei und nachhaltig lebenden Gesellschaft im Herzen.
Für das (Un)mögliche sitzen
Es ist der Donnerstag vor dem G20 Gipfel. Der Asphalt ist rauh, aber von der Sonne etwas aufgewärmt, als Tobi sich in 30 Metern Abstand vor die Wasserwerfer auf den Boden setzt. Die geschlossene Reihe schwarzer Einsatzfahrzeuge ist vor ihm aufgereiht, die einzigen Menschen, die mit ihm sitzen, ist eine gute Freundin direkt neben ihm und, einige Meter vor ihm, dichter an den Fahrzeugen dran, ein guter Freund. Der Rest der breiten Straße ist frei.
Heitere Entschlossenheit macht sich in ihm breit. Er lächelt den Polizisten hinter und neben den Fahrzeugen zu und muss an die Begegnung vor zwei Jahren denken, als er das, was er jetzt gerade wieder spürt, zwei Polizisten persönlich gesagt hat: „Ich sitze auch für euch hier.“ Und er wird hier sitzen bleiben und mit seiner gewaltlosen Präsenz zeigen: Die Politik der G20 erschafft keine Gesellschaftsordnung, in der er leben möchte.
Plötzlich trifft eine Flut aus eiskaltem Wasser seinen Körper und durchtränkt augenblicklich seine Kleidung. Als der erste Schock, der ihn durch die Kälte und die unvermittelte Wucht des Wasser durchfährt, sich legt, entspannt er bewusst seine Atmung und lässt die Wasserflut da sein. Der Wasserstrahl ändert seinen Härtegrad und Tobi zieht instinktiv schützend die Arme vor das Gesicht. Die Kälte lässt ihn zittern, doch er selbst bleibt gelassen, seine Absicht klar: Er bleibt sitzen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hört der Wasserstrom abrupt auf. Die Arme noch vor dem Gesicht und in von Wasser vollkommen durchnässten und schweren Klamotten trifft ihn plötzlich etwas hart an der Schulter. Hände greifen nach seinen beiden Armen, verdrehen seine Handgelenke, ein Tritt trifft ihn seitlich an der Hüfte, ein anderer am Schienbein. Sechs Polizist*innen zerren ihn über den Asphalt, durch Scherben hindurch und werfen ihn auf den Gehweg.
Eine blühende Welt
Es ist das Ende eines normalen Arbeitstages. Ich starre auf den Bildschirm und mein Körper fühlt sich an, als wäre das Blut plötzlich aus meinen Adern hinausdiffundiert. Der Erlebnisbericht von Tobi und das Bild von sechs Gestalten, die ein bisschen wie schwarze Astronauten aussehen: in zentimeterdicke Schutzkleidung gekleidet, mit Helmen und Schlagstöcken bewaffnet. Dazwischen, zu ihren Füßen, Tobis schmerzverzerrtes Gesicht. Mir wird schlecht.
Ich hatte von den Ausschreitungen gehört, hatte davon gelesen, dass Polizisten und Demonstranten verletzt worden sind, dass es Randalierer gab, die Autos angezündet und Läden gestürmt haben, wusste, dass viel Gewalt geherrscht hatte. Mitzubekommen, dass ein Mensch, den ich von Herzen gern habe und für seinen wundervollen Weg, voll gelebter Vision, Tatkraft, Mitgefühl und Freude, bewundere, dass ein solcher Mensch auch auf solche Gewalt stoßen kann, dreht mir den Magen um.
Und als ich tiefer hinschaue, bemerke ich: Es macht mir Angst. Angst, dass die Strukturen, die uns hier in diesem erstaunlich freien Land schützen, uns Rechte ermöglichen (wie zum Beispiel das Recht zu demonstrieren), uns eine wirklich bemerkenswerte Möglichkeit geben uns frei zu entwickeln und andere Visionen zu leben – wofür ich so tiefgreifend dankbar bin – Angst, dass diese Strukturen sich gerade beginnen zu ändern.
Gleichzeitig geschieht auch etwas Eigenartiges. Aus der Hochachtung heraus, dass Tobi da war und friedlich für das eingestanden (oder eingesessen) hat, von dem er in seinem tiefsten Inneren überzeugt ist, entfaltet sich plötzlich auch in mir eine tiefe Entschlossenheit: Es gibt noch so viel mehr zu tun. Und ich möchte mit allem, was ich geben kann, zu einer Welt beitragen, in der Menschen aufblühen können, egal wo sie leben. Eine Welt, in der auch die Natur um uns herum blüht, die uns alle trägt.
Die Suche
Ich muss an Christiana Figueres denken, die in ihrem bewegenden Talk drei Schritte mit uns teilte, um die Welt zu retten. Der erste: Setze all deinen sturen Optimismus gegen die Verzweiflung ein.
Ok, es muss ihn also geben, einen gangbaren Weg, die Spur eines hilfreichen Schrittes. Ich beginne zu recherchieren, denn ich möchte verstehen und das ganze Bild sehen.
Wie haben Polizisten den Einsatz auf dem G20 Gipfel erlebt? Viele Menschen sind den Polizisten für ihren Einsatz beim G20 Gipfel sehr dankbar. Andere kritisieren das Auftreten der Polizei. Und alle Polizisten, die da im Einsatz waren, sind Menschen wie du, wie ich, wie jeder friedliche Demonstrant, sogar wie jeder Randalierer, wie jeder Anwohner, wie Trump, wie Merkel. Es sind darüberhinaus Menschen, in deren Gegenwart ich mich im Allgemeinen sehr sicher und entspannt fühle und von denen ich oft den Eindruck habe, dass sie mit ihrem Beruf Gutes in die Welt bringen möchten und ihn deshalb gewählt haben.
Sehr schnell stoße ich auf Artikel, die mir Schnipsel liefern, Anhaltspunkte (im Folgenden zitiert mit Links), aus denen sich die folgende Geschichte zusammensetzt. Der Charakter ist dabei fiktiv, beim Geschehnis, das zeitlich mit dem Erlebnisbericht von Tobi zusammenfällt, habe ich mich an Berichten von NDR-Repotern, Demoteilnehmern und freien Journalisten, die live vor Ort waren, orientiert.
Welcome to Hell
Das Gewicht der Montur schränkt Alex‘ Bewegungsradius ein und lässt ihn schwerer atmen. Er verlagert sein Gewicht auf das andere Bein. Durch die Scheibe seines Helms bricht sich abendliches Sonnenlicht, das gerade zwischen zwei Wolken hervorscheint, und taucht die Szenerie vor ihm für kurze Zeit in surreale Farben. Vielleicht 500 schwarzgekleidete Menschen, einige von ihnen noch immer vermummt, dahinter erstreckt sich der lange Demozug aus tausenden von bunten T-Shirts, Haaren und Bannern. Aus den Augenwinkeln nimmt er die Reihe an schwarzen Einsatzfahrzeugen wahr, die die Wasserwerfer bereit halten. Der „Welcome to Hell“-Demozug am Donnerstag vor dem G20 Gipfel ist gestoppt.
Er bemerkt, wie der Fuß seines Kollegen neben ihm nervös auf und ab wippt. Vor 20 Minuten hatten sie den „schwarzen Block“ dazu aufgefordert, die Vermummung abzunehmen. Einige haben das getan, doch andere noch immer nicht. Seine Nervösität mischt sich mit Ärger. Wie kann man nur so blöd sein! Sie sind eingekesselt, die Wasserwerfer stehen bereit und es gab eine ganz klare Aufforderung.
Schräg ihm gegenüber sieht er Klaus, seinen Vorgesetzten, zu einem Kollegen neben ihm sprechen. Alex‘ Brustkorb schnürt sich für kurze Zeit zu. Noch lebhaft hat er die Stimme von Klaus im Ohr, als sie über die Anordnung informiert wurden, genau an dieser Stelle die Demo zu stoppen: „Wie kann man nur so was anordnen!“ – ein Spruch für den Tagesspiegel, denkt Alex zynisch. Wachsam beobachtet er den schwarzen Block vor sich. Er spürt ihre angeheizte Stimmung. Und doch, seit zwanzig Minuten, keine Gewalt, kein Stein, keine Flasche.
Weitere Minuten verstreichen. Für einen sehr kurzen Moment tragen seine Gedanken ihn fort zu einer Erinnerung: Christina, mit Lukas auf dem Arm, der ihm lachend mit seiner kleinen Hand auf die Nase tabst. Er sammelt sich wieder und schaut konzentriert in die Menschmenge hinein. Und dann, das Zeichen, das Alex so befürchtet hat. Doch es ist klar, dass er auch dieser Anordnung folgt. Er setzt sich zeitgleich mit den neun Kollegen an seiner Seite in Bewegung. Seine Muskeln spannen sich an, während das Gewicht der Montur seine Schritte zu Beginn erschwert und dann beschleunigt. Gezielt drückt er den Anflug von Angst weg, den die unmittelbar bevorstehende Konfrontation in ihm auslöst, drückt die Erinnerung an seinen Kollegen weg, der nach einem Einsatz schwerverletzt neben ihm auf dem Gehweg lag. Sein Herzschlag pocht ihm in den Ohren, sein Blickfeld wird fokussiert, sodass er den anderen Trupp Kollegen, die sich von der gegenüberliegenden Seite in den schwarzen Block stürzen, nicht mehr wahrnimmt. Er zielt mit dem Pfefferspray auf die Gesichter zweier Vermummte, die sie als erstes erreichen. Die beiden sacken zusammen, als ein Schlagstock ihre Unterschenkel trifft. Chaos bricht aus.
29 Stunden später. Das zweite Mal die Aussicht auf 2 Stunden Schlaf seit der ersten Eskalation auf der „Welcome to Hell“ Demo. Und dann schallt von draußen wieder Lärm herein, das Schanzenviertel wird auseinandergenommen. Seine Kollegen stöhnen auf. Alex spürt eine seltsame Mischung aus Erschöpfung und sturem Funktionieren. Sie stehen wieder auf der Straße. Etwas Schweres trifft Alex an der Schulter, die trotz Schutzanzug zu schmerzen beginnt. Pefferspray, Schlagstöcke, Schreie. Dann trifft ein Stein seinen Helm, sein Kopf dröhnt. Doch für Alex ist klar, wenn er sich jetzt zurück zieht, stehen seine Kollegen mit noch weniger Mann da. Er bleibt trotz Schmerzen bei ihnen.
Der Gewalt-Mechanismus
Wenn wir uns drohender oder tatsächlicher Gewalt gegenüber sehen, sind die automatischen Reaktionsmuster Kampf oder Flucht. Zudem löst Gewalt in der Regel beide einhergehenden Emotionen in uns aus: Angst und Wut. Wut auch dann, wenn wir flüchten (auch wenn die Angst während der Flucht dominiert), Angst auch dann, wenn wir kämpfen (sonst müssten wir ja nicht kämpfen). Und beide Emotionen verengen unser Blickfeld und unseren Handlungsspielraum, katapultieren uns in den Autopiloten hinein.
So entsteht auf sehr leichte und gefährlich dynamische Weise ein Aufschaukelungsprozess, der darin mündet, was geschehen ist: Eskalation.
Und das macht ziemlich klar: Gewalt erzeugt Gegengewalt und steigert die eigene Wut, die eigene Angst, sowie die Wut und die Angst der „Gegenseite“ immer weiter. Wir finden Schlamm in uns und bewerfen die anderen mit Schlamm, schüren deren Gegenreaktion, mit Schlamm zurückzuwerfen usw. Gewalt führt, neben den körperlichen Verletzungen auch zu seelischen Verletzungen. Die schwerwiegendsten Traumata entstehen, wenn wir Gewalt von anderen Menschen erfahren. Es entsteht und wächst Angst und Misstrauen, die Fronten verhärten sich weiter. Schlamm erzeugt Schlamm erzeugt mehr Schlamm erzeugt Schlammlawinen.
Wenn Angst und Wut nun automatisch immer dann entstehen, wenn wir Gewalt erleben, stellt sich die Frage:
Wie gehen wir damit um, wenn uns eine angeheizte Menschenmenge gegenüber steht, von der Gefahr auszugehen scheint, wenn jemand uns unsere Bedürfnisse abspricht, uns körperlich verletzt, uns provoziert, gegen die Anordnung handelt, unserem Weltbild entgegensteht oder Menschen weh tut, die uns am Herzen liegen?
Von Front zu Front
Die Fronten sind ein besonders kritischer Punkt: Der Samen für Gewalt wird bereits gelegt, wenn wir uns einer „Front“ gegenübersehen und deren Mitglieder weniger als Menschen sondern vor allem als Mitglieder dieser Front wahrnehmen.
Es ist manchmal wirklich schwer zu glauben. Aber das Ding ist: Auf beiden Seiten jedweder Front wollen die Menschen glücklich sein.
- Auf beiden Seiten befinden sich Menschen, die für ihre Ideale einstehen – zum Beispiel für Sicherheit zu sorgen oder Ausbeutung zu minimieren, die durch unsere Lebensweise und politische Entscheidungen entsteht.
- Auf beiden Seiten befinden sich Menschen, die für ihre Familien einstehen – zum Beispiel, indem sie für eine lebenswertere und gerechtere Zukunft eintreten, oder für die nächste Miete arbeiten.
- Auf beiden Seiten möchten Menschen Leiden minimieren – für sich selbst, für Menschen, die ihnen nahe stehen, für Menschen die sie schützen wollen oder für Menschen, deren Leiden sie berührt.
Mit dem Erkennen dieser grundlegenden Motivation kann Verstehen stattfinden.
Gleichzeitig ist klar, dass wir diese Bedürfnisse niemals langfristig erfüllen können, wenn wir Leiden für andere erzeugen, dass wir niemals wirklich glücklich sein können, wenn andere unglücklich sind. Denn wie sieht es im Innern eines Randalierers aus? Er lebt in ständiger Angst vor der Rache derer, die durch ihn zu Schaden gekommen sind und der Angst davor, aufzufliegen. Er lebt in extremem Misstrauen anderen Menschen gegenüber, was in unfähig macht, tatsächliche Freunschaften zu anderen aufzubauen. Und er schürt seine eigene Wut immer weiter, die ihm jede Chance auf unbefangene, glückliche Momente nimmt. Wut und Angst erzeugen mehr Wut und Angst, in uns und sehr oft auch um uns herum.
Nur indem wir uns das Menschsein „der anderen“ vor Augen halten und nach Verstehen streben, haben wir eine Chance, die Fronten, die so anfällig dafür sind, den Kontext von Gewalt zu bieten, aufzuweichen. Nur mit Verstehen haben wir eine Chance, unseren Kopf und unser Herz offen genug zu halten, um in Verbindung zu gehen und aus dieser Verbindung heraus Dinge zu verändern, eine Chance, dass hilfreiche nächste Schritte erwachsen.
Von Mensch zu Mensch
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie mir das in Situation gelingen könnte, in der ich Gewalt erfahre. Ich weiß, dass es Menschen gelungen ist und habe direkt den gewalt-losen Widerstand vor Augen, den Gandhi oder Martin Luther King angeführt haben. Ich habe den Stamm in Afrika vor Augen, der Verbundenheit statt Trennung kreiert. Und Tobi, der auf der nächsten Demo genauso gewaltlos dasitzen wird, mit dem Bewusstsein im Herzen „Ich sitze auch für euch.“
Was ich noch weiß ist, dass du, dass ich, dass wir
- uns genau jetzt das Menschsein in anderen bewusst machen können, deren Taten wir verurteilen und nicht nachvollziehen können.
- noch heute damit beginnen können, uns in die Lage anderer hineinzuversetzen und sie zu verstehen, ihren Wunsch danach, glücklich zu sein.
- noch in dieser Woche einem Menschen, der uns ungerecht behandelt hat, etwas sagen können, was wir an ihm oder ihr schätzen.
Eine Gesellschaftsordnung, wie Tayo sie erlebt, ist vielleicht unrealistisch. Aber was tun die Mitglieder dieses Stammes, was tut Malou, die Gewalt von Tayo direkt erlebt hat? Sie alle werden Wut und vielleicht auch Angst spüren. Aber anstatt diesen „Schlamm“ an Gefühlen zurückzuschleudern, nähren sie das Gegenteil, in sich selbst und auch in Tayo. Sie nähren Mitgefühl, sie nähren Wertschätzung, sie nähren Zugehörigkeit. Und damit reißen sie alle Fronten ein.
Genau das können wir auch tun, in unserem Alltag, in Konflikten und auf Social Media. Dabei zählt jeder kleine Schritt, das ist das Gegenmittel zur Hilflosigkeit.
Denn letzten Endes besteht auch eine ganze Gesellschaft vor allem aus einem: vielen vielen Menschen mit Kopf und Herz.
In Liebe für Liebe,